Der besondere Fall
Beim Treffen des Zentralen Ethikkomitees wurde der besondere Fall aus einer Alexianer-Region vorgestellt. Der Sachverhalt drehte sich um den am 1936 geborenen Patienten L., der zur stationären Behandlung vom 07.09.2022 bis zum 13.06.2023 Patient einer Alexianer-Klinik war.
Machen, was (nicht) geht
Anamnese und weiterer Verlauf
Die Verlegung in die Alexianer-Einrichtung erfolgte auf Wunsch der Angehörigen, die sich u.a. mit der bisherigen Versorgung des Vorkrankenhauses unzufrieden zeigten. Laut Verlegungsbrief vom 07.09.2022 litt L. unter einer initialen Covid Infektion mit Pneumonie, einer fortgeschrittenen Demenz, einer Aspirationspneumonie sowie einer progredienten Anarthrie (fortgeschrittene Sprechunfähigkeit). Laut Verlegungsbrief verweigerte er ferner die orale Nahrungs-wie Flüssigkeitsaufnahme, die Legung einer PEG-Anlage war zum damaligen Zeitpunkt durch die Kinder des Patienten jedoch abgelehnt worden. Darüber hinaus war L. in seiner Mobilität eingeschränkt, eine Mobilisation außerhalb des Bettes zum Verlegungszeitpunkt nicht mehr möglich. Von den eingesetzten Maßnahmen einer geriatrischen Komplexbehandlung profitierte L. bis zum Verlegungszeitpunkt nicht, auch war eine verbale Kommunikation des russisch/ukrainisch sprechenden Patienten nicht mehr möglich. Laut Aussagen der Angehörigen habe L. vor dem jetzigen stationären Aufenthalt noch mit gewisser Unterstützung ein „gutes Leben“ gehabt. So habe er alleine mit Unterstützung in seiner Wohnung in der Nähe der Tochter gewohnt.
Bei Übernahme zeigte L. initial ein schweres septisches Bild, zudem bestätigte sich das vorbeschriebene Krankheitsbild der Demenz. So war eine fortgeschrittene dementielle Erkrankung erkennbar, am ehesten vom Alzheimer-Typ, bei positiven Demenzparameter. Dazu kam eine ausgeprägte subkortikale atherosklerotische Enzephalopathie, bei einer fraglichen neu auftretenden mikroangiopathischen Infarzierung. Darüber hinaus hatten die Immobilität und der Spracharrest zugenommen. Außerdem lag eine ausgeprägte Dysphagie (Schluckstörung) mit unzureichender Nahrungsaufnahme vor.
Am 21.09.2022 kam es im Rahmen des septischen Geschehens und damit verbundener Gerinnungsstörungen, Antikoagulation bei Vorhofflimmern, ausgeprägter Mikroangiopathie und Blutdruckentgleisungen zu einer Hirnmassenblutung. Seit dieser Zeit lag eine deutliche Vigilanzminderung (soporös bis komatös) vor, die ein Kontakt kaum mehr sowie eine eigenständige Entscheidung nicht mehr möglich machte. L. war nun vollkommen auf fremde Hilfe angewiesen und absolut bettlägerig. Im Rahmen einer schweren Dysphagie war er nicht mehr in der Lage, Flüssigkeit oder Nahrung oral zu sich zu nehmen. Die zwischenzeitliche Ernährung wurde daher zunächst parenteral, dann via nasogastraler Sonde durchgeführt. L. erschien in einem sehr reduzierten Allgemeinzustand, insgesamt jedoch etwas stabiler, ohne Anzeichen einer substantiellen Besserung.
Auf Wunsch der Angehörigen, wurde alles unternommen, das Leben des Patienten zu retten. Seine anfänglichen hypertensiven Entgleisungen und Rhythmusstörungen hatten sich gebessert. Auch wirkte er von Seiten der Atmung und des Kreislaufes stabiler, eine vorübergehende Überwachung mittels Monitor war im weiteren Verlauf nicht mehr erforderlich. Allerdings kam es immer wieder zu Aspirationspneumonien (insgesamt 3 x), die aber erfolgreich mit Antibiotika behandelt wurden.
Neurologisch konnten keinerlei wesentliche, im Alltag relevanten Besserungen festgestellt werden. L. öffnete lediglich auf Schmerzreiz –gelegentlich auch auf lautes Ansprechen -seine Augen, konnte aber den Blick nicht fixieren. Dabei atmete er spontan und ohne Unterstützung. Rehabilitativ beschränkten sich die Maßnahmen daher weitgehend auf passives Durchbewegen, aktive eigene Impulse zeigte der Patient dagegen nicht. Insgesamt zeigte sich das Bild einer ausgeprägten Hirnschädigung ohne Hinweis auf Besserung.
Ethische Problemstellung
In Rede stand nun, ob L. eine PEG-Sonde zur künstlichen Ernährung angelegt werde solle oder nicht.
L. war nicht mehr in der Lage zu einer autonomen Willensäußerung, seine Angehörigen vermittelten den behandelnden Ärzten jedoch, dass ihr Vater in jedem Fall –auch in der aktuellen Situation –habe leben wollen. Er sei Zeit seines Lebens immer ein „Kämpfer“ gewesen. Die Familie erhielt Geld aus einem Fond für Überlebende des Holocaust. Auch die Perspektive einer Heimunterbringung und vollkommenen Abhängigkeit von anderen Menschen hätte ihn nicht von seinem Lebenswillen abbringen können. Diese Aussagen lagen demnach als mutmaßlicher Patientenwille vor, auch, da eine schriftliche Willensbekundung des Patienten selber nicht existierte.
Bei fortgeschrittener Demenz ist es angezeigt, die medizinische Indikation der Anlage einer PEG-Sonde kritisch zu diskutierten. So kann die Anlage einer PEG im fortgeschrittenen Stadium einer Demenz laut S3-Leitlinie der DGEM (Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin) generell nicht empfohlen werden. Daher kann nur im Einzelfall, individuell nach Abwägung des Nutzens und möglicher Risiken entscheiden werden. Im vorliegenden Fall musste diesbezüglich festgehalten werden, dass bereits in der verlegenden Klinik eine Schluckstörung festgestellt wurde. Die sich im Verlauf einstellende Hirnblutung trug außerdem nochmals zu einer Verschlechterung des Schluckaktes bei.
Für die vorliegende schwere Dysphagie konnten zwei Ursachen verantwortlich gemacht werden, die jeweils zu anderen Prognosen führten. So war grundsätzlich für den ursächlichen Anteil der Hirnblutung eine Besserung der Dysphagie denkbar, wenn sich die Blutung im Gehirn zurückbildet, jedoch blieb auch bei Besserung der Blutungssymptomatik die Diagnose einer fortgeschrittenen Demenz mit ihrem Dysphagieanteil, die unweigerlich zu einer weiteren neurodegenerativ-bedingten Verschlechterung der kognitiven Leistungsfähigkeit und Dysphagie mit zunehmender Hilfslosigkeit führen würde.
Ergebnis der ethischen Fallbesprechung am 23.09.2022:
Vor diesem Hintergrund wurde am 23.09.2022 eine ethische Fallbesprechung durchgeführt, die sich mit dem Für und Wider der Anlage einer PEG-Sonde beschäftigte.
Dem Aspekt der fortgeschrittenen Demenz wurde in der Entscheidungsfindung ein besonderes Gewicht eingeräumt. So befand L. sich aus ärztlicher Sicht in seiner letzten Lebensphase und bedürfe eher einer fachlich guten, humanen, symptomkontrollierten Sterbebegleitung als einer Lebensverlängerung durch eine PEG. Die Anlage einer PEG wurde entsprechend als medizinisch nicht mehr begründet bewertet. Die Besprechung kam zu dem Ergebnis, dass zum Wohle des Patienten eine PEG-Anlage nicht durchgeführt werden sollte, ebenso sollte auf die Neuanlage eines zentralen Venenkatheters verzichtet werden. Die Schmerzfreiheit und Schmerzbehandlung sollten, wenn notwendig, mit in den Behandlungsplan aufgenommen werden. Ärztlicherseits wurde außerdem entschieden, dass keine Reanimation oder Verlegung auf Intensiv mehr erfolgen sollte.
Reaktionen
In den darauffolgenden Gesprächen mit den Angehörigen bestätigten diese immer wieder das Bild, dass Herr L. auch in der aktuellen Situation hätte leben wollen. Die Anlage einer PEG-Sonde entspräche dem Patientenwillen. Darüber hinaus forderten sie eine ggf. notwendige Reanimation ein. Es solle „alles gemacht werden!“. Deutlich wurde, dass die Familie von einem schlechten Gewissen geplagt wurde. So hatten die Kinder L. wegen eines Urlaubs in eine Kurzzeitpflege gegeben, was sie nun als Initial für die Verschlechterung seines Zustandes begriffen. Damit hätte „alles Übel angefangen“. Diese Befürchtung schien aus medizinischer Sicht aufgrund der mit Sicherheit schon lange verlaufenden Demenz jedoch nicht wahrscheinlich. Grundsätzlich schien die Familie eine sehr enge Bindung zum Vater zu haben, die sie dazu veranlasste, alles für ihn tun zu wollen und auch das Behandlungsteam dazu aufzufordern. Der unbedingte Wille der Angehörigen führte bis hin zu der Aussage, dass andernfalls „unterlassene Hilfeleistung“ vorliege.
Die Rücksprache mit dem Vorsitzenden der Schlichtungsstelle der Ärztekammer Nordrhein ergab dessen Empfehlung, Alles zu tun, was von der Familie gewünscht würde, da andernfalls jahrelange Rechtsstreitigkeiten zu befürchten wären.
Aufgrund fehlender Vorsorgevollmachten bzw. eines Betreuers wurde zur Klärung des Dissenses zwischen Angehörigen und behandelnden Ärzten darüber, ob eine PEG-Sonde angelegt und ggf. reanimiert werden soll, das Vormundschaftsgericht eingeschaltet.
Gerichtliche Gutachten
Laut gerichtlich erstelltem Angehörigengutachten sähe die Familie Potential zur Rehabilitation und könne nicht verstehen, warum es bisher nicht zu einer Rehabilitation kam, bzw. warum diese von einer neurologischen Klinik abgelehnt wurde. Die Familie kenne die Wünsche des Vaters und wisse, dass er maximale Versorgung wünsche und so lange wie möglich leben wolle. Entsprechend wolle die Familie auch eine Reanimation bei Verschlechterung des Zustandes. Der Vater bewege die Finger der linken Hand und habe auf Aufforderung der Pflegekraft abgehustet. Sie (die Tochter) habe sich kürzlich in eine andere Ecke gestellt und ihn angesprochen und er habe dort hingeschaut. Sein Zustand werde von Woche zu Woche besser, daher sei die Familie optimistisch, dass er auch weiterhin Fortschritte mache.
Der gerichtlich bestellte medizinische Gutachter befand, dass eine Besserung bildmorphologisch vorliege, neurologisch jedoch nicht. Deutlich auszuschließen sei, dass sich der Patient in einem Sterbeprozess befinde. Daher könne über eine positive oder negative Prognose aktuell wenig geäußert werden. Diese sollte in Zukunft erneut evaluiert werden. Durch Anlage einer PEG sei ärztlicherseits eine Verbesserung des Zustandes nach Hirnblutung denkbar, ferner könne ohne PEG-Sonde P nicht entlassen werden. Das Gutachten bezog außerdem den von der Tochter vermittelten mutmaßlichen Willen P´s als „weiterhin kämpfen zu wollen und daher in alle möglichen Maßnahmen einzuwilligen, solange er am Leben bleibe“ mit ein. Das Gutachten kam entsprechend zu dem Ergebnis: „Die Option einer Verweigerung der PEG-Anlage und sogar der Wunsch der Klinik die nasogastrale Sonde zu entfernen, obwohl es bewusst ist, dass der Betroffene nach kurzer Zeit verstirbt, ist aufgrund des aktuellen Zustandes des Betroffenen sowie aus ethischen und moralischen Gründen nicht nachvollziehbar“. Darüber hinaus wurde ausgeführt, die PEG-Anlage sei medizinisch indiziert und sinnvoll und würde Stabilisierung und eventuell eine neurologische Rehabilitation ermöglichen. Entsprechend seien ärztliche Zwangsmaßnahme zum Wohle des Betroffenen und geeignet, erheblichen gesundheitlichen Schaden abzuwenden.
Gerichtsentscheidung
Bereits am 25.10.2022 bestellte das Amtsgericht beide Töchter zu gesetzlichen Betreuern für alle Bereiche. Am 02.12.2022 stellte das Gericht klar, dass nicht sicher vorausgesagt werden könne, welche Effekte eine PEG für den Genesungsprozess habe. Das von der Klinik eingeschlagene Procedere würde daher auch vom Gericht als nachvollziehbar begründet und „als nicht unmoralisch“ angesehen. Dennoch folgte das Gericht der Argumentation des Sachverständigen und ordnete die Anlage einer PEG als „im Zweifel für das Leben!“ an.
Die verantwortlichen Behandler stellten gegenüber dem Gericht klar, dass weiterhin persönliche Bedenken blieben, man nun aber den Wunsch und die Nöte der Betreuer berücksichtige und keine weiteren Einwende mehr erhebe.
Weiterer Verlauf
Am 02.12.2022 wurde komplikationslos die PEG-Sonde angelegt, die im März 2023 auf einem duodenalen Schenkel erweitert wurde. Am 05.12.2022 wurde eine zuvor bestimmte Do-not-resuscitate-Anordnung gestrichen und die Maßnahme festgesetzt, den Patienten notfalls zu reanimieren. Dies geschah auf Hinweis des Gerichts, unter Bezugnahme des bekannten Sachverständigengutachtens, die Betreuerin habe sich soweit bekannt dafür ausgesprochen, sämtliche lebenserhaltenden Maßnahmen zu versuchen.
In der Zwischenzeit kam es zu einer rezessiven Aspirationspneumonie und Urosepsis (Ecoli-Nachweis in der Blutkultur) mit antibiotischer Behandlung, einer Clostridien difficilen Infektion CDAD, behandelt mit Langzeitantibiose Vancomycin und anschließender Fidaxomicingabe (Dificlir®). Die PEG-Sonde wurde auf einen duodenalen Schenkel zur Vorbereitung einer Stuhltransplantation verlängert, zuletzt (Mai 2023) bestand jedoch kein Nachweis von Clostridien dificile im Stuhl mehr. Es bestand eine Sepsis mit Nachweis von Staphylococcus epidermidis in den Blutkulturen, die antibiotisch mit Meropenem und Linezolid therapiert wurde. Außerdem wurden im Dezember 2022 Staphylokokkus haemolyticus in den Blutkulturen entdeckt, eine Spondylodiszitis BWK11 wurde durch antibiotische Langzeitbehandlung mit Piperazillin/Tazobactam und Linezolid behandelt. Das CRP befand sich zuletzt im niedrigen Bereich, wobei das neurochirurgische Konsil keine operative Indikation feststellte und auch zukünftig in Wertung der Gesamtsituation abzuwägen sei. Des Weiteren wurden bereits im November 2022 MSRA-Keime im Nase-Rachen-Abstrich nachgewiesen. L. entwickelte ferner einen Grad 4 Dekubitus im Steißbereich, der unter Entlastung durch Wechseldruckmatratze und Lagerung eine Besserungstendenz zeigte.
Ein erneutes neurologisches Gutachten kam am 03.04.2023 zu dem Schluss, dass die aus psychiatrischer Sicht für möglich gehaltene Verbesserung nach PEG-Anlage in Kenntnis des Verlaufes sicher ausgeschlossen werden könne. Der Patient sei in keinster Weise rehabilitationsfähig, vielmehr sei davon auszugehen, dass das jetzige, ganz ordentlich bedauernswerte Zustandsbild sich bis zum Tode nicht mehr ändern würde. Die dringende Empfehlung laute daher, mit allen Beteiligten das gesamte Vorgehen noch einmal kritisch und patientenzentriert zu reflektieren und dann auch anzupassen!
Am 13.06.2023 wurde L. schließlich in eine Intensivpflegeeinheit verlegt. Der Entlassungsbrief befand:
„Angesichts eines zweiten aktuellen neurologischen Gutachtens, in dem die Prognose des Patienten als infaust gewertet wurde, erfolgten erneute Gespräche mit der Familie zur Klärung des weiteren therapeutischen Vorgehens. Bezüglich eines DNR/DNI Status konnte die Familie auch zu diesem Zeitpunkt im Sinne des Patienten keine Zustimmung erteilen. Die Familie bestand und besteht weiterhin auf eine Maximaltherapie mit Reanimationspflichtigkeit und falls erforderlich Intensivbehandlung.“